Achtung: der folgende Artikel setzt sich mit einer fiktiven Wirklichkeit auseinander. Es werden jedoch auch grundlegende Prinzipien der Mediation angesprochen.
Es gibt eine Reihe von Büchern, die sich „Scheibenwelt-Romane“ nennen. Geschrieben von dem brittischen Autor Sir Terry Pratchett (2003 der erfolgreichste englische Autor nach Joanne K. Rowling). Ich bin seit Jahren Fan der Reihe und schreibe in diesem Artikel über ein interessantes politisches Phänomen der Fantasy-Welt: Das System der Gilden in der Großstadt der Scheibenwelt, „Ankh-Morpork“.
Die Gilden wurden vom Patrizier von Ankh-Morpork ins Leben gerufen. Nach dem Motto: „Wenn man schon Kriminalität nicht vermeiden kann, sollte man sie wenigstens organiseren“. Es gibt über 300 Gilden für fast alle Berufsgruppen. Selbst Bettler, Diebe und Auftragsmörder haben eine Gilde. Diese Gilden regulieren sich selbst. Die Richtlinien und Gesetze wurden von den Gilden selbst verfasst und lediglich vom Patrizier unterschrieben. Jedoch sorgt nicht der Herrscher oder die Polizei für deren Einhaltung, sondern die Gilden selbst. Durch dieses System wurde die Kriminalität stark gesenkt. Beispielsweiße darf jedem Bürger der Stadt nur ein bestimmter Geldbetrag pro Jahr gestohlen werden (dies kann man als eine Art Diebessteuer sehen). Zu diesem Zweck bekommt jeder beraubte Bürger eine Quittung von dem Dieb, der ihm das Geld abgenommen hat. Wenn eine Person in diesem Jahr bereits nachweislich bestohlen wurde, entschuldigt sich der Dieb bei der betreffenden Person für die Unannehmlichkeiten und sucht sich ein anderes Opfer. Aus diesem Grund schließen manche Menschen einen Vertrag mit der Diebesgilde ab, welche diesen daraufhin bereits bei Jahresbeginn ausrauben. So kann dieser angstfrei den Rest des Jahres durch die dunklen Gassen der Stadt wandern. Wenn in Einzelfällen ein Dieb einen illegalen Raub vornimmt, kümmert sich die Diebesgilde darum und verhängt Sanktionen über den Querschläger.
Ich persönlich finde diese Idee äußerst interessant und musste schon oft beim lesen herzlich lachen. Natürlich entspringt dies einer Reihe von Fantasy Romanen und ich gehe nicht davon aus, dass etwas Vergleichbares in unserer heutigen Gesellschaft in der Form funktionieren würde.
Kurzer Exkurs in die Theorie der kreativen Entscheidungsfindung: In vielen Argumentationen ist die Reihenfolge diese: Ich habe eine Meinung und suche nach Argumenten um diese zu unterstützen. Bei allen Kreativübungen die mir bekannt sind, wird die Bewertung bis zum Schluss aufgehoben. Damit soll vorher unbeschwert in alle Richtungen gesponnen werden können. Zu frühes Auswerten einer Idee auf Gut/Schlecht/Machbar/Sinnvoll usw. blockiert den kreativen Prozess (Kreativübungen sind ein essentieller Bestandteil von Mediationen um neue Lösungen für den akuten Konflikt zu finden). Bei einer kreativen Entscheidung werden also erst alle Argumente wertfrei gesammelt und dann anhand dieser Liste eine Entscheidung gefunden.
Ich habe mir die Argumente für eine Selbstregulierung der Gilden anhand Edward deBonos „PMI“ angesehen. PMI steht für Plus, Minus, Interessant und erklärt sich im Grunde von selbst. Die Liste ist natürlich kurz gehalten.
Pluspunkte:
-Menschen befolgen Regeln lieber, wenn sie von ihnen/Ihresgleichen kommen (Dies hat mit Verständnis und Selbstbestimmung zu tun)
-ein solches System beteuert Vertrauen vom Herrscher an seine Bevölkerung; angebliche Willkür der Politiker steht außer Frage
-aus psychologischer Sicht sorgt Akzeptanz und Einbeziehung einer unliebsamen Eigenschaft (in diesem Fall Kriminalität) für mehr Erfolg als Bekämpfung. Studien zur Verbrechensforschung ergaben, dass das Risiko der Rückfälligkeit durch härtere Strafen steigt. Das hier dargelegte System bekämpft Kriminalität nicht sondern arbeitet mit ihr
-wer wegen sozialer Ungerechtigkeit keinen Ausweg mehr sieht als zu stehlen, fände hier einen Ort um seinem Elend zu entkommen
-Kosten für Polizei und Justizanstalten würden verringert
-geringere Arbeitslosenrate, da Verbrecher ein anerkannter Beruf ist
Minuspunkte:
-Mord ist legal und akzeptabel (es ist strittig, ob dieser Punkt relevant ist. Mord liegt nicht in der Natur des Menschen. Wir würden nicht plötzlich alle zu Mördern werden, wenn es keine Strafen mehr dafür gäbe)
-die Menschen außerhalb der Gilden haben keine Möglichkeit auf die Gesetze der Gilden Einfluss zu nehmen
-unser Städte haben bei Weitem mehr Einwohner als die Stadt Ankh-Morpork und es wäre schwerer die illegalen Berufsgruppen zu regulieren
-Arbeitsplatzverlust für Polizei u.ä.
-Viele Verbrechen unserer Zeit ließen sich vermutlich nicht „vergilden“ (siehe bei „Interessante Punkte“)
-Verbrechen legalisieren zu lassen fände sicher keine Zustimmung aus der Bevölkerung aus Angst vor einer Zunahme der Gewalt
-Mögliches Gefühl der Ohnmacht bei Betroffenen
-Möglicherweise unvereinbar mit unserem Gerechtigkeitsgefühl
Interessante Punkte:
-Welche Regulierungen würde eine Drogenhändler-Gilde treffen und welche Auswirkungen hätte es auf Drogenkonsum bei Minderjährigen?
-Was passiert mit modernen Verbrechen wie Steuerhinterziehung, Internet-Piraterie und Veruntreuung?
Mein Resümee ist: Das System der Demokratie hat seinen Sinn und sollte nicht so einfach über Bord geworfen werden. Ihr System wurde von vielen Menschen entwickelt und über Jahrhunderte geschliffen. Das hier dargestellte System ist die Idee eines einzigen Mannes und hat damit natürlich blinde Flecken (die hat die Demokratie der heutigen Form jedoch auch noch). Es ließe sich nicht einfach in unsere Welt umsetzen, aber es gibt ein paar interessante Punkte, von denen wir lernen können. Immerhin haben Autoren -genau wie Journalisten- eine überwachende Funktion der Gesellschaft (deshalb werden Medien auch die Vierte Gewalt genannt). Deswegen nehme ich es mir an dieser Stelle zur Aufgabe, die guten Anregungen und Intentionen von Pratchetts Gildensystem zu ergründen.
-Einbeziehung der Bürger in unser Justizsystem: Dies ist teilweiße schon gegeben, da Menschen zum Verfassungsgericht gehen können und dort eine dauerhafte Änderung des Strafgesetzbuches bewirken können. Dadurch dass Menschen sich bei uns Mediatoren auch außergerichtlich einigen können (zum Beispiel beim Täter-Opfer-Ausgleich), gibt es auch hier mehr Möglichkeit zur Partizipation der Bürger. Trotzdem sehe ich noch viele Bestandteile unseres Justiz-Systems, die mir Sorgen machen und auf die ich keinen Einfluss nehmen könnte. Besonders was mit Menschen nach ihrer Inhaftierung bzw. Verurteilung passiert.
-Rehabilitation von Verbrechern statt Bestrafung: Ich halte es für wichtig, dass Menschen die Verantwortung für ihr Handeln tragen. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass Menschen mit Empathie begegnet wird statt mit Ausgrenzung und Bestrafung, wenn sie anderen Menschen schaden. Oft steht der angerichtete Schaden im Vordergrund und was die Tat über die vermeindliche Pathologie des Täters aussagt. Wichtiger finde ich die Umstände auf die der Täter reagierte. Und wieso hatte er keine anderen „Strategien“ zur Verfügung, um für seine Bedürfnisse zu sorgen? Welche Wege können wir dieser Person zeigen, bei der seine Bedürfnisse bedacht werden ohne andere in Mitleidenschaft zu ziehen?
Für viele Menschen unserer Gesellschaft sind solche Gedanken unakzeptabel. Doch ich beende meinen Artikel mit einem Zeichen, dass es auch anders gehen kann: Es gibt einen Stamm in Neuguinea, der ein anderes System verwendet: Wenn jemand einem anderen Leid zufügt, versammeln sich die Mitglieder des Stammes um den Täter herum und erinnern ihn an all die Dinge, die er getan hat um das Leben der Anderen zu bereichern. Der Gedanke dahinter ist, dass er nicht böse ist, sondern nur die Verbindung zu seinem natürlichen Bedürfnis anderen Menschen zu helfen verloren hat.